Höhentraining: Dünne Luft, fette Leistung?

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Ob Trainingsblöcke in großen Höhenlagen wirklich eine Leistungssteigerung bringen, ist bis heute umstritten. nordic sports hat mit dem Sportmediziner Dr. Christoph Dehnert über die Studienlage gesprochen. Für Langläufer hält er vor allem eine Variante für sinnvoll – und die ist auch für ambitionierte Freizeit-Athleten durchführbar.
Text: Wilfried Spürck
Laufen die norwegischen Athleten im Winter 2020/21 in der Loipe nur noch hinterher? Diese Frage wird Sie jetzt wohl überraschen. Aber mal abgesehen davon, dass wir damit Ihre Aufmerksamkeit erregen wollten, hat sie einen ernst gemeinten Hintergrund, und der hat mit dem Thema Höhentraining zu tun. Biathlon-Dominator Johannes Thingnes Boe beklagte im Frühjahr im norwegischen Fernsehen, dass er und seine Landsleute aufgrund der Pandemie-bedingten Reisebeschränkungen benachteiligt seien. Trainingsmöglichkeiten für Langläufer auf Höhen von über 1.500 Meter, wie es sie vor allem in den Alpenländern gibt, sind in Norwegen nicht vorhanden. Deshalb sollten, findet Boe, ihm und seinen Kollegen wenigstens die modernen Methoden eines simulierten Höhentrainings zur Verfügung stehen. Das Problem: In Norwegen sind Hypoxiekammern, in denen durch einen künstlich erzeugten Sauerstoffmangel Höhenbedingungen herrschen, nicht zugelassen. Dieses Verbot basiert auf Studien von Ende der 1990er-Jahre, die einen „unfairen technologischen Vorteil“ durch diese Art des Trainings sowie eine mögliche gesundheitliche Gefährdung des Athleten bei Durchführung ohne Begleitung durch Experten feststellten. Die Regierungs-Verantwortlichen in dem skandinavischen Land lehnen es nach wie vor ab, diese Gesetzeslage zu ändern. Zum Leidwesen nicht nur von Boe. Viele seiner Kollegen würden sich eine Aufhebung des Banns wünschen, mit dem Norwegen weltweit ziemlich allein dasteht, erzählte er. (Anm.: inzwischen, im Frühjahr 2021, wurde das Verbot aufgehoben)
Weniger Sauerstoffmoleküle für die Lunge
Diese Diskussion unterstreicht den Stellenwert des Höhentrainings für nordische Sportler. Klassischerweise versteht man darunter ein Training in hoch gelegenen Gebieten, um die Leistungsfähigkeit für Wettkämpfe in niedrigeren Höhen zu verbessern. Dieser Effekt basiert auf der Annahme, dass sich der Körper an die spezifischen, „leistungsfeindlichen“ Bedingungen in der Höhe anpasst und daraufhin umso mehr zu leisten imstande ist – was dem Athleten in Wettkämpfen im Tal zugutekommt. Vor allem ist die Luft in der Höhe „dünner“. Der Körper bekommt weniger Sauerstoff, den er für die Energiebereitstellung in den Muskeln braucht. Dieser Sauerstoffmangel beruht auf dem geringeren Umgebungsdruck. Der Mediziner Dr. Christoph Dehnert, Mitglied im DSV-Beirat für Medizin und Gesundheit, erklärt: „Die Zusammensetzung der Luft ist in unserer Atmosphäre überall gleich, der Sauerstoff-Anteil liegt bei knapp 21 Prozent. Aber je höher man kommt, desto geringer wird der Umgebungsdruck. Damit reduziert sich der Sauerstoffpartialdruck, der die treibende Kraft für den Transport des Sauerstoffs aus der Lunge ins Blut ist. Es sind weniger Sauerstoffmoleküle je Volumeneinheit Luft in der Lunge.“ Heißt: Die Muskeln werden vom Blut schlechter mit Sauerstoff versorgt und sind daher weniger leistungsfähig. „Der durchschnittliche Leistungsrückgang in den für Höhentraining relevanten Höhen beträgt etwa ein Prozent je 100 Meter Höhe“, erklärt Dehnert.
Mehr Epo ausgeschüttet
Jeder, der mal in den Bergen und dort sportlich aktiv war, hat erlebt, dass seine Atmung schneller wurde. Dies ist eine Methode, mehr Sauerstoff in die Lunge zu pumpen. Anders gesagt: Die schnellere Atmung ist eine erste Anpassungsmaßnahme des Körpers. Der geht aber noch weit ausgefeiltere Wege, die entscheidend für die Wirkung des Höhentrainings sind. Dessen Verfechter setzen vor allem auf die vermehrte Bildung von roten Blutkörperchen (Erythrozyten) im Knochenmark, die sich bei dem Sauertoffmangel in der Höhe vollzieht. Nach etwa zwei bis drei Wochen bildet der Körper in der Höhe mehr Erythrozyten als zuvor im Flachland.
Die Erythrozyten sind für den Sauerstofftransport im Körper zuständig – je mehr Erythrozyten er produziert, desto mehr Sauerstoff kann zu den Muskeln gebracht werden. Gesteuert wird die vermehrte Erythrozyten-Synthese durch das Hormon Erythropoetin, das bei Sauerstoffmangel verstärkt ausgeschüttet wird. Es ist auch unter dem Namen „Epo“ bekannt – und berüchtigt. Künstlich hergestelltes Epo wird bei bestimmten Erkrankungen eingesetzt, leider aber auch verbotenerweise von manchen Athleten zur Leistungssteigerung.
Datenlage uneinheitlich
Doch von der beschriebenen vermehrten Erythrozyten-Synthese kann der Athlet ganz natürlich und „legal“ profitieren, unter bestimmten Voraussetzungen. Zum einen kommt es auf die richtige Höhe an. Der Umgebungsdruck, und damit der Sauerstoffpartialdruck der Luft, nimmt mit zunehmender Höhe kontinuierlich ab. Wie hoch das Trainingsgebiet liegen sollte, dafür „gibt es keine einheitliche Definition“, sagt Dehnert. „Höhentraining wird in Höhen von circa 1.600 Meter bis etwa 2.200 oder 2.300 Meter durchgeführt. Höhen über 2.500 Meter werden eher selten genutzt.“
Ein anderer wichtiger Aspekt ist die Dauer des Höhen-Aufenthaltes. Um einen Effekt auf die Neubildung von roten Blutkörperchen zu erzielen, sind laut Experten drei bis vier Wochen erforderlich. Liegt ein solcher Trainingsblock relativ nah am Wettkampf, verfügt der Athlet in diesem noch über die „oben“ aufgebaute erhöhte Sauerstofftransportkapazität – und damit über eine verbesserte Leistungsfähigkeit. So weit die Theorie. Tatsächlich aber ist umstritten, ob die Rechnung aufgeht. „Die Datenlage zum Höhentraining, was den Effekt für die Leistungsfähigkeit im Flachland betrifft, ist uneinheitlich“, konstatiert der Experte. „Einige Studien zeigen einen Effekt, die Mehrzahl keinen, einige sogar einen negativen.“ Einfach drauflostrainieren kann auch nach hinten losgehen. „In der Höhe müssen die Athleten mit einer reduzierten Intensität trainieren, um nicht in einen Übertrainingszustand zu kommen. Durch die geringere Intensität wird aber auch die Muskulatur weniger trainiert, und damit nimmt die Leistungsfähigkeit ab.“
"Live high, train low"
Um diesen kontraproduktiven Effekt zu vermeiden und gleichzeitig dennoch die Anpassungsmaßnahmen des Körpers in der Höhe zu nutzen, wurde das modifizierte Konzept „Live high, train low“ entwickelt. Die Athleten wohnen und schlafen also in der Höhe, trainieren aber in einem tiefer gelegenen Areal. „So kann man der Theorie nach die positiven Effekte der Höhe in Ruhe nutzen und das Training unter normalen Bedingungen in normaler Intensität durchführen“, erläutert Dehnert. „Dazu gibt es gute Daten, die bestätigen, dass es was für die Leistungsfähigkeit im Flachland bringen kann“, stellt der Sportmediziner fest, der dennoch auch hier skeptisch bleibt: „Es gibt dazu auch eine blind durchgeführte Studie, bei der die Trainingsgruppen in einem Höhenhaus entweder unter Sauerstoffmangel oder bei normaler Umgebungsluft lebten und gemeinsam trainierten. Die Teilnehmer wussten nicht, zu welcher Gruppe sie gehörten. Diese Studie zeigte keinen Effekt.“
Dennoch ist auch aus Dehnerts Sicht „Live high, train low“ die Höhentrainingsvariante, die am erfolgversprechendsten für eine Leistungsverbesserung im Flachland ist. Zudem gibt es im Leistungssport seit einigen Jahren einen weiteren Trend: „Es werden hochintensive Einheiten, die im anaeroben Bereich (Umwandlung von Kohlenhydraten in Energie ohne Sauerstoff, d. Red.) stattfinden, in der Höhe durchgeführt, um einen zusätzlichen Trainingsreiz zu setzen.“
„Gefahr der Überreizung“
Angesichts der insgesamt unklaren Datenlage, was Höhentraining zur Leistungsverbesserung in „normalen Höhen“ betrifft, verwundert es nicht, dass diese klassische Methode, also leben und trainieren in der Höhe, heute seltener auf den Trainingsplänen steht, so Dehnerts Beobachtung. „Es gibt aber einzelne Athleten, die drauf schwören“, so der Mediziner weiter. Auch dies ist ein Ergebnis der Forschung: Ob Höhentraining anschlägt, scheint individuell sehr unterschiedlich zu sein. Ein Beispiel aus dem deutschen Skilanglauf-Team teilte uns Teamchef Peter Schlickenrieder mit: „Wir machen aktuell nur mit Lucas Bögl Höhentraining nach den positiven Erfahrungen bei ihm aus dem letzten Jahr.“ Was die gesamte Mannschaft betrifft, bestätigen Schlickenrieders Pläne Dehnerts Einschätzung. „Höhentraining für alle ist uns zu riskant, weil die Gefahren der Überreizung zu groß sind.“ Zu hohe Intensität beim Trainieren in der Höhe und ein daraus resultierender Übertrainingszustand würde etwa die Anfälligkeit für Infekte erhöhen. Insofern setzen Schlickenrieder und sein Team auf „körperliche Stabilität“, um auf dieser Grundlage den „zusätzlichen Trainingsreiz mit Höhe“ zu setzen. Man achte darauf, sich „immer wieder in Höhentrainingsorten aufzuhalten“, ohne „explizit Höheneffekte zur Leistungssteigerung zu nutzen“.
Höhentraining zur Akklimatisation
Allerdings spielt für die nordischen Sportarten ein weiterer Faktor eine große Rolle. „Viele Wettkämpfe“, hebt Dehnert hervor, „finden in relativ großer Höhe statt, sei es in Davos, Antholz oder St. Moritz, die alle über 1.500 Meter hoch liegen. Das macht den Athleten schon zu schaffen – und durch Training in der Höhe, also Akklimatisierung, wird die Ausdauerleistungsfähigkeit in der Höhe tatsächlich besser. Das ist unbestritten.“ Höhen-Trainingsaufenthalte zur Akklimatisation sind auch für jeden empfehlenswert, der bei Volksläufen wie dem Engadin Skimarathon, dem La Sgambeda oder dem La Venosta starten will. Diese Rennen finden in Höhen von bis zu 1.800 Meter statt und können bei vorheriger Gewöhnung des Körpers an solche Bedingungen besser und schneller bewältigt werden. Im Idealfall empfiehlt sich für Läufer aus dem „Flachland“ zur Vorbereitung ein mehrwöchiger Aufenthalt in für das Höhentraining geeigneten Höhen relativ kurz vor dem Wettkampf. Wer dies nicht schafft, kann dennoch etwas für seine Akklimatisierung tun. Bleibt zum Beispiel nur im Dezember Zeit, um für den Engadiner im März ein längeres Höhentraining durchzuführen, ist auch dies nicht umsonst. „Nach guter Akklimatisation erfolgt eine erneute Anpassung an die Höhe später viel schneller. Der Effekt hält sich mehrere Wochen, wenn man einmal gut akklimatisiert war. Und bis zu zwei Monate nach dem Aufenthalt kann die Akklimatisation danach schneller gehen“, sagt Experte Dehnert. Heißt: Nach einer solchen „Grund-Akklimatisation“ bringen in der Zeit danach auch vereinzelte kürzere Aufenthalte in der Höhe einen Effekt.
Weitere Anpassungs-Faktoren
Dieser beruht nicht auf der vermehrten Bildung von Erythrozyten, sondern vor allem auf zwei anderen Faktoren. „Zum einen versucht der Körper, unter den Bedingungen des Sauerstoffmangels die Konzentration der roten Blutkörperchen zu erhöhen, indem Blutplasma ausgeschieden wird. Damit steigt der Hämatokritwert, also der Anteil der roten Blutkörperchen im Blut. Andererseits sinkt zwar gleichzeitig das Blutvolumen und damit die Menge Blut, die das Herz mit einem Schlag pumpen kann, was die Leistungsfähigkeit negativ beeinflusst. Aber die höhere Konzentration der roten Blutkörperchen scheint in der Höhe zu überwiegen“, erklärt unser Experte. Ein zweiter Faktor der Akklimatisation ist die Atmung. „Die wird in der Höhe sensibler. Man steigert die Atmung und sättigt so das Blut besser mit Sauerstoff auf.“
Gerade Nicht-Profis sollten über 1.500 oder gar 2.000 Meter darauf achten, die Intensität zu reduzieren. Wegen der Ausscheidung von Blutplasma verdickt das Blut, was zu Kopfschmerzen oder Schwindel führen kann. Dies ist in einem begrenzten Ausmaß gerade in den ersten Tagen kein Grund zur Beunruhigung, sollte aber daran erinnern, die Belastung nur allmählich zu steigern. Ausreichend trinken ist ebenfalls wichtig.
Übrigens kann es sinnvoll sein, erst am Tag vor dem Rennen anzureisen statt zwei bis drei Tage vorher, weil oft in diesem Zeitraum ein kleines „Leistungsloch“ auftritt. Dies muss jedoch jeder individuell für sich herausfinden.
Simulation für Flachländer
Für diejenigen, die keine Gelegenheit haben, viel Zeit im Gebirge zu verbringen – etwa, weil sie weit entfernt von den Wintersportgebieten leben –, aber beispielsweise den Skimarathon im Engadin absolvieren wollen, kann es aus Dehnerts Sicht für ambitionierte Sportler durchaus sinnvoll sein, Angebote zu simuliertem Höhentraining zu nutzen. „Hypoxiekammern“, in denen der relative Sauerstoffanteil zugunsten von Stickstoff reduziert wird, werden in manchen Fitnessstudios und spezialisierten Instituten angeboten. Die gesundheitlichen Risiken sind dabei übrigens nicht größer als in natürlichen Höhen. Auch spezielle Atemmasken, die die Sauerstoffzufuhr drosseln, können einen ähnlichen Effekt wie Einheiten in der Höhe haben.
Ob diese Masken in Norwegen auch untersagt sind, ist uns nicht bekannt. Jedoch sollte die Konkurrenz unabhängig davon nicht darauf bauen, dass Johannes Thingnes Boe in der Loipe weniger Power haben wird als zuletzt, zumal er mit seinem Team wohl doch noch ein paar Einheiten im Gebirge absolvieren konnte. Anfang Oktober sollte es für drei Wochen zum Lavazejoch nach Italien auf circa 1.800 Metern gehen. <
Der Beitrag erschien in nordic sports 3/20.
nordic sports-experte
PD Dr. med. Christoph Dehnert ist Facharzt für allgemeine innere Medizin, Kardiologie und Sportmedizin im Medbase Sports Medical Center Zürich. Er ist Mitglied im Beirat des Deutschen Skiverbandes für Medizin und Gesundheit.
